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OVG Saarland, Urteil vom 28.08.2018 - 2 A 158/18
1. Das Außerkraftreten bauleitplanerischer Festsetzungen in gemeindlichen Bebauungsplänen wegen Funktionslosigkeit kann unter dem Aspekt normativer Rechtssicherheit nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen ernsthaft in Betracht gezogen werden, wenn zum einen die Verhältnisse, auf die sie sich beziehen, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließt und wenn zum anderen diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in die Fortgeltung der Festsetzung gesetztes Vertrauen keinen Schutz mehr verdient.*)
2. Entscheidend ist unter dem erstgenannten Aspekt, ob die Festsetzung überhaupt noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Plans einen sinnvollen Beitrag zu leisten.*)
3. Allein der Umstand, dass die plangebende Gemeinde unter dem Eindruck der faktischen Verhältnisse in einem Baugebiet zwischenzeitlich von der dem Bebauungsplan zu Grunde liegenden städtebaulichen Konzeption abweichende planerische Vorstellungen entwickelt hat, ist für die Beurteilung des Funktionsloswerdens einer planerischen Festsetzung ohne Belang, solange die Planungsträgerin diesen Vorstellungen nicht im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden planungsrechtlichen Verfahren zur Änderung des Bebauungsplans rechtlich verbindlich Ausdruck verleiht.*)
4. Der Erfolg jedes Nachbarrechtsbehelfs gegen eine baurechtliche Zulassungsentscheidung, hier die Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Verletzung des jeweiligen Rechtsbehelfsführers in eigenen Rechten, das heißt einen Verstoß gegen eine bei der konkreten bauaufsichtlichen Zulassungsentscheidung zu beurteilende, zumindest auch seinem Schutz dienende Vorschrift des materiellen Rechts voraus.*)
5. Die Festsetzungen nach § 23 BauNVO über die überbaubaren Grundstücksflächen durch die Ausweisung von Baugrenzen und Baulinien in Bebauungsplänen sind ebenso wie Festsetzungen über das zugelassene Maß baulicher Nutzung in Bebauungsplänen (§§ 16 ff. BauNVO) wegen eines insoweit regelmäßig nicht feststellbaren Austauschverhältnisses unter den Eigentümern der Grundstücke im Plangebiet nur dann nachbarschützend, wenn sich im konkreten Fall ein dahingehender Regelungswille der plangebenden Gemeinde feststellen lässt.*)
6. Der Wille zur nachbarschützenden Ausgestaltung der jeweiligen Festsetzung muss dabei nicht zwingend im Textteil des Plans oder in der Begründung verlautbart sein; er kann sich vielmehr im Einzelfall auch aus der Planzeichnung und aus den jeweiligen örtlichen Verhältnissen im Wege einer Interpretation ermitteln lassen.*)
7. Bei der Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung liegt eine Verletzung der von der Festsetzung begünstigten Nachbarn in eigenen Rechten vor, wenn die objektiven Befreiungsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht beachtet worden sind.*)
8. Ist der Wegfall nachbarschützender bauplanerischer Vorgaben wegen einer "Funktionslosigkeit" infolge Nichtbeachtung darauf zurückzuführen, dass diese Festsetzungen von der Gemeinde, anderen Bauherrinnen und Bauherren und gegebenenfalls auch von der Bauaufsichtsbehörde über Jahre hinweg ignoriert wurden, so ist bei der Zumutbarkeitsbetrachtung im Rahmen des im Gebot des Einfügens nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verorteten Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme den Interessen des Nachbarn, der jedenfalls sein Gebäude im Grundsatz plankonform im Vertrauen auf die Festsetzungen ausgeführt hat, gegenüber dem "Normalfall" verstärkt und mit Gewicht Rechnung zu tragen.*)
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